Ein Campingplatz irgendwo in Rumänien. Es ist Sommer.
Was unser Alltag ist (wir sind zum Wäschewaschen auf diesem Platz gelandet), ist der Urlaub vieler anderer Menschen, denen wir begegnen. Nicht selten treffen wir auch hier auf andere Deutsche, die nach den ersten Minuten schon feststellen, dass wir nicht zu den üblichen Urlaubern gehören. Unweigerlich werden die Fragezeichen größer, wenn das Thema Schule bzw. Unschooling / Freilernen auftaucht. Auch heute wieder. Inspiriert von diesem wirklich guten Gespräch entsteht nun unser FAQ zum Freilernen / Unschooling.
Ein paar der immer wiederkehrenden Fragen von unseren (teilweise) irritierten, aber interessierten Mitmenschen oder besorgten Familienmitgliedern für euch beantwortet:
Häufigste Sorgen
Wie lernen Freilerner, wenn sie keine Schule besuchen?
Dieses Lernen muss nicht so aussehen, wie wir uns das vorstellen oder wie wir es kennen. Lernen bedeutet für uns nicht Hefte aufzuschlagen und Übungen nach Vorgabe darin zu machen. Lernen ist Spiel. Das Leben ist lernen. Damit die Wissbegierde, die all unsere Kinder von Natur aus mitbringen, nicht zerstört wird, dürfen wir sie nicht von außen mit Informationen unter Druck (z. B. Leistungsdruck, Gruppenzwang, Belohnung und Strafe etc.) zuballern.
Doch genau das wird in deutschen Schulen unserer Meinung nach gemacht. Da bleibt am Nachmittag zum einen wenig Zeit, um sich tief den eigenen Interessen zu widmen und auch zu wenig Zeit, um diese überhaupt erst zu entwickeln. Zudem wird alles, was irgendwie mit Schule in Zusammenhang gebracht werden könnte, nur noch mit der Kneifzange angefasst.
Mal ehrlich, wer kennt das nicht aus seiner eigenen Schulzeit?
Freilerner lernen also vom Leben selbst. Ohne Vorgabe von Themen, sondern ganz nach den eigenen Interessen. Sie lernen genau das, was für sie gerade dran ist. Und das in einem irren Tempo, weil sie alles dazu aufsaugen wie ein Schwamm das Wasser. Dieses Lernen findet aus intrinsischer Motivation heraus, also vom Lernenden selbst aus. Hier ist der Mensch kein Objekt, in den etwas „hineingestopft“ wird, das da vielleicht gerade gar nicht hinein will. Der jeweilige Mensch entscheidet hier selbst, was hinein soll und wann und in welchem Umfang und genau das ist die Selbstbestimmung, die wir anstreben. Mögt ihr mehr über unseren Weg erfahren?
Freilernen (Unschooling) – Weg in die Freiheit
Wie und wann lernen eure Kinder lesen und schreiben?
In deutschen Schulen lernen Kinder ab 6 Jahre zu lesen und zu schreiben. Nicht, weil jedes einzelne Kind dazu bereit wäre in dem Alter, sondern weil das Schulsystem mit dem Versuch der Massenbildung – nicht nach Maß – sich selbst begrenzt. Am besten geht das, wenn man Informationen geschrieben an die Masse verteilt, weil man so eine größtmögliche Anzahl Menschen erreicht und alles weitere mit diesem Werkzeug (nichts anderes ist Lesen) im Klassenzimmer theoretisch erlernt werden kann. Der Bezug zum eigentlichen Leben geht so verloren. Wie und wann in Schulen lesen und schreiben beigebracht wird, hat nichts damit zu tun, was das beste für die einzelnen Menschen wäre, sondern nur damit, was das beste für das System Schule ist.
Lesenlernen ist für unsere Kids höchst individuell und beide Kids verfolgen daher unterschiedliche Ansätze. Genau sagen, wie sie es im Speziellen lernen, können wir gar nicht, da nicht alle Schritte offen sichtbar sind. Das Ergebnis sehen wir dann im Alltag, wenn eines der Kinder plötzlich etwas liest oder schreibt und uns immer wieder mit neuen Fähigkeiten und Wissen überrascht. Nämlich genau dann, wenn sie selbst dazu bereit sind.
Manche Kinder können plötzlich lesen und der Lernprozess war nie sichtbar. Andere lernen es über viele Jahre in kleinen Schritten, sichtbar für andere. Manche erkennen Wörter an ihren einzelnen Silben oder Buchstaben, andere verinnerlichen Wörter als Ganzes. Manche stellen viele Fragen und andere beobachten im Stillen.
Lesen wird genau dann wichtig für ein Kind, wenn es selbst merkt, dass es sich mit dieser Fähigkeit das Leben erleichtern kann. Nicht mehr warten müssen, dass ein Erwachsener vorliest, mit Freunden kommunizieren, einen Laptop bedienen sind nur einige Beispiele.
Freilerner finden vieles neben Büchern und Comics zum Üben: Straßenschilder, Werbetafeln, Namen von Geschäften, Nummernschilder, Spiele, Textnachrichten von Oma, Lebensmittelverpackungen, um nur einige zu nennen.
Es gibt ja schon wichtige Themen wie z.B. Rechtschreibung. Wie lernen eure Kinder sowas beim Freilernen / Unschooling?
Es gibt viele wichtige Themen. Menschen lernen die Dinge, die für sie dran sind, die für sie grad Bewandtnis haben. Und die dann richtig gut und schnell, wenn die intrinsische Motivation (die Motivation aus einem selbst heraus ohne Druck oder Antrieb von außen) sie antreibt.
In unserem Beispiel wäre es beim Freilernen / Unschooling so:
Rechtschreibung werden sie dann lernen, wenn andere Menschen Probleme haben, die geschriebenen Texte zu lesen und verstehen. Die eigene Motivation wächst immer dann, wenn die Notwendigkeit dazu besteht und ihnen der Sinn deutlich wird. So wie Kleinkinder lernen deutlich zu sprechen, weil sie merken, dass sie sonst nicht verstanden werden, so lernen Freilerner richtig zu schreiben, weil sie sonst nicht richtig gelesen werden. Zudem lernt sich Rechtschreibung insbesondere durch’s Lesen selbst. Was das Auge immer wieder sieht, kann es sich so merken.
Jetzt sagt ihr: „Aber mein Sohn liest gar nicht gern.“ Das mag sein. Aber warum ist das so? Wurde er eventuell zu einem Zeitpunkt gezwungen es zu lernen, als er noch gar nicht selbst das Bedürfnis danach hatte?
Dies ist einer der Hauptgründe, warum Menschen heutzutage Probleme mit dem Lesen oder schlichtweg keinen Bock drauf haben. Sie haben das Lesenlernen als Pflicht/Zwang wahrgenommen. Es war nichts, das sie zu dem Zeitpunkt speziell interessiert hat oder worauf sie besondere Lust verspürten oder es wurde ihnen durch ständige Vorgaben und Wiederholungen auf schon 30x kopierten Aufgabenblättern madig gemacht.
In der Folge meiden sie dann dieses Feld und nutzen ihr mit Müh und Not Erlerntes nur für das wirklich Nötigste. Durfte ein Mensch den Zeitpunkt und auch das „Wie“ selber wählen und erkennt den Nutzen daraus für sich selbst, so entwickelt sich gar nicht erst eine Abneigung und der Mensch bleibt offen für Texte jeglicher Art.
Kann man als Freilerner / Unschooler einen Schulabschluss machen?
Einen Abschluss kann man in Deutschland als sog. Externe an Schulen machen. Wenn der Mensch das selber möchte, wird sich entsprechend darauf vorbereitet und sich für die Prüfung angemeldet.
Heutzutage ist ein Abschluss bei der Berufswahl allerdings nicht mehr zwingend erforderlich. Das Ziel ist nicht mehr bei allen eine gut bezahlte Anstellung zu finden, sondern sich mit dem selbstständig zu machen, was ihnen liegt. Zudem beginnen auch Arbeitgeber und sogar Universitäten zu verstehen, dass Noten auf einem Blatt Papier nichts über die Person aussagen, dessen Name oben drauf steht, so dass ein Abschluss in Zukunft nicht mehr den Stellenwert haben wird, den er heute vermeintlich noch hat. Kreative, offene und hinterfragende Köpfe werden als Mitarbeiter schon vielerorts sehr geschätzt.
Können Menschen, die mit Freilernen / Unschooling groß geworden sind, ganz normal in unserer Gesellschaft leben oder leben alle in Parallelgesellschaften und können auch nur selbstständig Geld verdienen?
Jedem Menschen steht es frei, die Art der Gesellschaft zu wählen, die ihm zusagt. Auch Unschooler können ganz normal am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, sofern sie es möchten und als Angestellte in den gängigen Jobs tätig werden. Absolut notwendige Abschlüsse können erlangt werden, sollten sie sich dafür entscheiden (siehe Frage oben drüber).
„Ich bin sehr froh, dass meine Eltern mich dazu gezwungen haben, einen Uni-Abschluss zu machen und nicht abzubrechen. Das bildet einen ja auch charakterlich, wenn man etwas zu Ende bringt, auf das man keine Lust hat und das man nicht braucht.“
Woher nehmen eure Kinder solche Erfahrungen?
Gegenfrage: Tut es das? Was hat man gewonnen, wenn man etwas zu Ende bringt, mit dem man eh nichts anfangen möchte? Bildet es einen charakterlich nicht viel positiver, wenn man sich entgegen der weitläufigen Meinung, man sei „gescheitert“ gar nicht als Versager fühlt, sondern sich darüber freut, dass man keine weitere Zeit mit etwas verschwendet, was man eh nicht machen will? Und diese Zeit vielleicht sogar dafür nutzt, etwas zu tun, was den eigenen Bedürfnissen und Interessen eher entgegen kommt? Wer entscheidet, was scheitern ist?
Gibt man die Verantwortung nicht auch dabei an andere ab, wenn man erwartet, dass sie einen zu etwas zwingen sollten, was man auch selbst tun könnte, wenn man nur wollte?
Ja, es bildet einen charakterlich, wenn man Dinge tut, die man nicht möchte und nicht braucht. Die Frage dabei ist aber viel mehr, ob diese charakterliche Bildung in eine negative Richtung geht oder in eine positive.
Ohne Schule fehlt den Kindern aber doch die nötige Sozialisation, oder nicht?
Menschen werden ihr leben lang „sozialisiert“. Das passiert immer dann, wenn sie auf andere Menschen treffen. Dabei ist es egal, wie alt diese Menschen sind. Sozialisation findet mit der Oma statt und mit dem Nachbarsbaby, mit dem Kassierer und der Treckerfahrerin, mit den Nachbarskindern, den Kindern aus dem Sportverein oder Pfadfindern, der Familie im Gesamten und dem gesamten Umfeld dieses Kindes. Für eine gute Sozialisation empfinde ich Schulen tatsächlich als kontraproduktiv. Jeden Tag im Wettstreit, Ältere gegen Jüngere, Schüler gegen Lehrer, wenig Zeit für echte Freunde und Interessen, dazu Mobbing und Bullying.
Nein, für eine gute Sozialisation bedarf es keiner Schule. Mein persönlicher Schulweg war diesbezüglich für mich auch richtungsweisend.
Man muss aber doch lernen sich in Gruppen einzufügen!?
Muss man das? Wer sagt das? Und warum? Es gibt Menschen, die tun das sehr gerne, andere wiederum nicht. Wir sind nicht alle gleich und manchen wird es leichter fallen und anderen nicht. Deshalb sind nicht die einen richtig und die anderen falsch. Wer gerne in Gruppen lebt, wird das tun und dort seinen Platz finden. Wer das nicht so gern hat, lässt es bleiben und wird auch seinen Weg gehen. Gruppen finden sich überall in unserer Gesellschaft. Eine Schule ist dafür nicht die einzige Möglichkeit und kein Garant, dass ein Mensch lernt sich in eine Gruppe einzufügen.
Aber muss nicht jeder mal Dinge tun, auf die man keine Lust hat?
Muss man das? Wer sagt das? Und warum? Soweit ich mich erinnere, können Erwachsene selber entscheiden, was sie gerne arbeiten möchten, wann sie aufstehen, was sie mit ihrem Geld anfangen, ob sie überhaupt morgens aus dem Bett steigen, jeden Tag Pizza essen, den Job kündigen, wenn man keinen Bock mehr drauf hat u.s.w.
SchülerInnen dürfen in Deutschland nicht kündigen. Können sich ihre Kollegen nicht aussuchen. Nicht mal das Arbeitsfeld und müssen auch noch fragen, ob sie mal aufs Klo dürfen. Warum messen wir mit zweierlei Maß und zwingen unsere Kinder zu etwas, das wir als Erwachsene nicht freiwillig tun würden?
Und ja klar gibt es Situationen, die wir gerne anders hätten. Unsere Kids möchten manchmal auch lieber ein Eis zum Frühstück, anstatt ein gesundes Müsli. Oder müssen mal Zeug aufräumen, wenn Platz für anderes frei wird, können nicht immer entscheiden, was gespielt wird, sondern müssen auch aushalten, wenn andere Kinder was entscheiden möchten… Diese Situationen verhindern wir ja nicht, indem die Kinder nicht in die Schule gehen. Die kommen von ganz alleine und steigern die Frustrationstoleranz eines jeden Menschen. Warum künstlich noch mehr davon erzeugen?
Aber ich bin doch kein Lehrer, ich kann doch nicht alles wissen! Woher nehmt ihr das ganze Wissen?
Keine Sorge, ihr müsst nicht alles wissen, um die Kids optimal im Unschooling zu begleiten. Unser Ziel ist ja auch, den Kids zu zeigen, wo und wie sie an die Informationen herankommen, die sie benötigen. Und genau das leben wir ihnen vor, wenn wir selbst etwas nicht wissen (Man kann ja nicht alles wissen, auch Lehrer nicht!). Wir wissen nicht alles und es ist keine Schande, wenn man etwas nicht weiß. Es ist eher eine Schande, vorzugeben etwas zu wissen, was man nicht weiß. 😉
Wir wenden uns bei Bedarf an Bücher, ans Internet, Dokus und Fachleute (offizielle und inoffizielle), wenn wir etwas wissen möchten und erschaffen uns so eine breite Palette an Möglichkeiten.
Ist eure Motivation für’s Freilernen / Unschooling, den Kindern euer eigenes Weltbild überzustülpen?
Kurz: Ja und nein.
Lang: Ja, weil wir es als unsere Aufgabe als Eltern erachten, unseren Kindern unsere Werte zu vermitteln. Wir glauben, dass es Aufgabe aller Eltern ist, ihren Kindern das auf ihrem Lebensweg mitzugeben, was sie selbst für wertvoll, moralisch oder allgemein ethisch halten.
Nein, weil wir unseren Kindern vorleben, dass wir alles hinterfragen und auch sie uns hinterfragen dürfen und sollen. So können sie sich jederzeit auch von unserem Weltbild abwenden, weil sie durch’s Hinterfragen auf andere Ergebnisse gekommen sind als wir. Sie werden nicht von einem System in ein anderes gepresst, sondern aus den Systemen herausgenommen. Sie verschaffen sich einen Überblick und können frei entscheiden, ob sie Teil eines Systems sein möchten oder nicht und wenn doch, von welchem.
Und: Es ist immer Aufgabe der Schule, den Kindern das Weltbild zu vermitteln, das die jeweilige Regierung gerade als die für sich förderlichste hält. In Schulen passiert nun also auch ein Überstülpen von Weltbildern, aber eben oft ohne Kenntnis oder Bewusstsein dafür der Eltern.
Des weiteren denke ich nicht, dass man wirklich frei aufwachsenden Kindern auch nur irgendwas überstülpen kann, das sie nicht wollen. Geht einfach nicht. 😀
Warum sind Freilerner / Unschooling – Familien oft gegen alles mögliche wie Schulmedizin, warum lehnen sie so vieles ab, was gängige Praxis ist?
Ob das oft der Fall ist, kann ich nicht beurteilen. Uns sind sowohl ganz „durchschnittliche“ Freilernerfamilien bekannt, aber ebenso viele, auf die die Beschreibung zutrifft.
Wer einmal begonnen hat ein bestimmtes System zu hinterfragen und daraus ausgestiegen ist, beginnt oft auch weitere Systeme zu hinterfragen. Je nachdem wie das Ergebnis der Recherche lautet, wird nun also auch aus weiteren System ausgestiegen. Dazu muss nicht der Ausstieg aus dem Schulsystem die Zündung dieser Kettenreaktion auslösen. Ich denke, es ist egal, aus welchem System man zuerst aussteigt.
Manche Menschen erleben die Grenzen der Schulmedizin oder eine traumatische Geburt ihres Kindes hinterlässt tiefe Spuren in der Familie. Sie beginnen nun zu hinterfragen. Nach ihrer Recherche entscheiden sie sich Stück für Stück aus dem staatlichen System zu Krankheit und Gesundheit auszusteigen. Oder eben auch nicht! Da sie nun für mögliche fehlerhafte Systeme ein Auge bekommen haben und kritisch überprüfen, erkennen sie eventuell das Schulsystem oder das Rentensystem oder irgendein anderes System für sich als auch fehlerhaft und steigen daraus aus.
Ein Domino-Effekt?
Was ist mit Kindern aus „bildungsfernen“ Schichten mit Eltern in Schicht- oder Vollzeitjobs? Würde es keine Schulpflicht geben und Unschooling erlaubt, würden diese eventuell vernachlässigt und ungebildete Analphabeten bleiben.
So sehr ich diese Sorge nachvollziehen kann, so ändert die Schulpflicht nichts am Schicksal dieser Kinder. Es gibt auch mit der Schulpflicht Leid in Familien. Dieses Leid wird es auch ohne Schulpflicht geben. Nur weil es keine Schulpflicht gibt, heißt das ja nicht, dass alle Eltern ihre Kinder von nun an zu Unschoolern machen. Es wird ja lediglich die Wahl gelassen, die Kids ins Schulsystem zu schicken oder eben nicht.
Zudem behaupte ich, dass sich Menschen, die sich keine intensiven Gedanken um Bildung machen, eher geneigt sind, ihre Kinder in Schulen zu geben, weil sie glauben, dass ihre Kids damit eine bessere Bildung erhalten als sie sie selbst bekamen. Menschen, die sich intensiv mit Bildung auseinandersetzen, die werden andere Wege wie z. B. Unschooling oder alternative Schulformen suchen und diese Kinder sind dann sehr wahrscheinlich auch nicht der Gefahr der Vernachlässigung ausgeliefert, weil eh ein anderer Denk- und Lebensansatz verfolgt wird.
Zudem gebe ich zu bedenken, dass jetzt bereits tausende (wenn nicht Millionen) Kinder in Deutschland unter der Schulpflicht leiden. Können wir von all diesen Kindern verlangen, dass sie u. U. traumatische Kindheiten erleben aufgrund der Schulpflicht? Die das einfach aushalten müssen für diejenigen, deren Eltern sich nicht sehr mit dem Thema Bildung befassen? Wo fangen wir da an Leid zu bewerten und wo hört es auf?
Was ist, wenn eure Kinder feste Freundschaften aufbauen möchten und wieder sesshaft werden wollen?
Unsere Kinder sind auch unterwegs durchaus in der Lage feste Freundschaften zu bilden. Wir suchen unsere Ziele nicht nur nach Bildungsmöglichkeiten aus, sondern auch danach, ob Freunde vor Ort sind, so dass sie nicht immer nur neue Kinder kennenlernen, sondern auch mit gewohnten Freunden sein können. Sollte unser Lebensstil ihre Bedürfnisse irgendwann nicht mehr befriedigen, dann ist es für uns selbstverständlich eine Option wieder zeitweise sesshaft zu werden oder unsere Art zu reisen an unsere veränderten Bedürfnisse anzupassen. Wir nehmen das Leben wie es kommt.
Dürfen eure Kinder in die Schule, wenn sie das möchten?
Ein absolutes Ja. Sollte der Wunsch aufkommen, mal eine Schule auszuprobieren, werden wir das unseren Kindern ermöglichen. Bisher hält sich dieser Wunsch sehr in Grenzen bzw. geht gegen Null. Sie treffen viele Kids unterwegs, die bereits Schulen besucht haben und von ihren Erfahrungen berichten. Das alleine sorgt schon dafür, dass sie aktuell nicht erpicht drauf sind und das Unschooling weiterhin bevorzugen.
Aus unserem Alltag
Wie geht ihr mit Situationen beim Unschooling um, die ihr nicht alleine meistern könnt? Wenn das Kind z. B. ein Instrument lernen möchte, das ihr ihm nicht selbst beibringen könnt oder eine Teamsportart ausüben möchte?
Ganz einfach: Wir holen uns Hilfe. Wir wissen und können nicht alles, aber wir wissen, wie man Menschen oder Informationen findet, die uns helfen können. Möchte eines unserer Kinder von sich aus ein Instrument lernen, so zeigen wir ihm die uns bekannten Möglichkeiten auf, die auch zum jeweiligen Alter und Typ passen (z. B. selber ausprobieren, Bücher, Internetrecherche, Online-Videokurs, „echter“ Mensch, der online oder offline lehrt).
Im Falle einer Teamsportart suchen wir ein Team, von dem es Teil werden kann. Dieser Punkt ist auf Reisen allerdings manchmal schwierig. Nicht immer hat man im Land so viele Kontakte, dass man eine Fußballmannschaft aufstellen kann oder ist lange genug an einem Ort, so dass sich eine Vereinsmitgliedschaft lohnt. Wenn ein Interesse sehr groß wird und wir uns nicht mehr in der Lage fühlen, das Interesse „bedienen“ zu können aufgrund unseres Lebensstils, dann werden wir auch am Lebensstil feilen. Bisher kam es aber noch nicht dazu, auszuschließen ist das jedoch nicht. Wir sind und bleiben flexibel und passen unser Leben an unsere Bedürfnisse an.
Ich bin alleinbegleitend. Wie kann ich meinen Alltag im Unschooling organisieren und Kinder und Job unter einen Hut bringen, wenn die Kinder nicht durch die Schule betreut werden?
Familien mit einem Elternteil brauchen natürlich mehr Organisation, als Familien, in denen ein Elternteil sich um den Job kümmern kann und das andere betreut. Wir machen das zum Beispiel meist im Wechsel, aber auch ab und an zeitgleich, wenn es mal nicht anders geht.
Natürlich betrifft die Organisation eines für alle passenden Unschooling-Alltags nicht nur alleinbegleitende Elternteile. Hier ein paar Schräubchen, an denen alle drehen können, die sich fragen, wie ein Alltag ohne Fremdbetreuung funktionieren kann:
1. Netzwerke schaffen
Findet Gleichgesinnte in eurer Umgebung (ob nun in fester Wohnung oder auf Reisen) und teilt euch die Betreuung bei noch jüngeren Kindern für ein paar Stunden am Tag auf. Ab 6 Jahre gehen schon viele (nicht alle) gerne mal woanders hin zum Spielen oder u. U. auch alleine in den Sportverein etc. Ältere Kinder benötigen natürlich nicht mehr so intensive Betreuung und sind auch mal sehr froh, wenn sie was alleine machen können. Netzwerke.
2. Den passenden Job finden
Findet einen Job, bei dem ihr zeitlich und womöglich auch örtlich ungebunden seid und den ihr nicht 8h pro Tag ausüben müsst, um für euer Einkommen zu sorgen. Was jetzt für viele wie ein schlechter Scherz klingt, ist aber durchaus mein Ernst. Es gibt diese Jobs. Es ist nur kaum wer gewillt tatsächlich die Verantwortung zu übernehmen und die Arbeit zu machen, weil es nun mal keine offiziell anerkannten Tätigkeiten sind. Ein paar Ideen findest du hier: Ortsunabhängig arbeiten ist (k)ein Hexenwerk – 5 Ideen für deine Unabhängigkeit. Darüberhinaus gibt es selbstverständlich noch weitere Möglichkeiten. Bleibt offen, werdet selbst zu Freilernern und eignet euch das an, was ihr dazu braucht.
3. Langeweile zulassen
Die meisten Kinder heutzutage kennen kaum Langeweile. Ständig bekommen sie Reize von außen. Entweder wird ihnen ein Tagesablauf auferlegt, der ihnen keine Zeit für Langeweile lässt oder sie lenken sich bei den ersten ungemütlichen Gedanken an Langeweile direkt mit Unterhaltung ab oder fordern Unterhaltung durch die Eltern/TV/Smartphone ein. Sind wir mal ehrlich: Gelernt haben sie es von den besten, nämlich ihren eigenen Eltern, die ebenfalls gerne zum Smartphone greifen oder meinen sich abends mit TV berieseln lassen zu müssen, wenn man „nichts zu tun“ hat. Hast du mal versucht dich eine Stunde lang auf einen Stuhl zu setzen und nichts zu tun?
Langeweile aber ist essentiell für Kreativität. Erst wenn ein Mensch Langeweile zulässt und aushält, wird das Hirn aktiv und sucht sich selbst eine kreative Beschäftigung, wenn keine von außen kommt. Das dauert meist so 20min und je häufiger „geübt“, desto schneller springt das Gehirn auf „innen“ anstatt „außen“ zu verweilen. Mit dieser Kreativität entwickelt sich Selbstwert. Anerkennung und Zustimmung durch Andere braucht dieser Mensch immer weniger und weniger.
Lasst also ruhig Langeweile zu. Wenn es um einige Stunden Arbeit geht, die erledigt werden muss, sei es um Geld zu verdienen oder andere alltägliche Organisation, dürft ihr dieser Arbeit nachgehen und spielt nicht das Entertainmentprogramm. Die Unterhaltung eurer Kinder liegt nicht in eurer Hand. So könnt ihr auch erholter und zufriedener wieder in gemeinsames Spiel mit euren Kindern gehen.
Was tut ihr, wenn euer Kind sich brennend für ein bestimmtes Thema interessiert und gerne ein Buch oder anderes Material „aufsaugen“ möchte? Wo kriegt ihr das auf Reisen her?
Unterwegs ist die Materialbeschaffung meist mit etwas mehr Aufwand verbunden, weil wir ja nicht alles direkt in der richtigen Sprache vorfinden. Wenn möglich, werden Bücher als eBooks gekauft (was natürlich noch den Vorteil hat, dass sie platzsparend sind). Geht das nicht oder ist es nicht sinnvoll, so bestellen wir online. Entweder an eine lokale Adresse, die wir uns organisieren müssen oder, wenn es mehrere Sendungen sind, zu unserer Verwandtschaft nach Deutschland, die dann wiederum alles zusammen an eine lokale Adresse bei uns versendet. Manchmal finden sich aber auch über Reisecommunities Menschen in der Umgebung, die das Gewünschte haben.
Ist Freilernen / Unschooling nicht ganz schön anstrengend, wenn du zwei/drei/vier Kinder selbst unterrichtest?
Nein. Denn wir unterrichten nicht. Wir leben unser Leben weiter so wie vor dem 6. Geburtstag. Sie lernen beim Unschooling genau so weiter, wie sie die ersten sechs Jahres ihres Lebens auch schon gelernt haben. Ja, ein Leben mit Kindern ist anstrengend. Doch wie bei allem haben wir die Wahl:
Ob wir meinen kämpfen zu müssen oder ob wir auch ein großes Stück Vertrauen in uns und unsere Kinder setzen wollen. Wir können uns dafür entscheiden, nicht die Beziehung zu unseren Kindern auf’s Spiel zu setzen. Eltern, die das tatsächlich tun, haben es schwer mit Kindern an deutschen Schulen. Ständig ecken sie an, weil sie nicht mehr bereit sind, den verlängerten Arm der Lehrkraft zu spielen und Gesetze bei sich zuhause durchzuboxen, hinter denen sie selbst nicht stehen. Auf Dauer ist die Belastung innerhalb der Familie, ausgelöst vom Schulsystem, anstrengender als ein Alltag mit der ganzen Familie ;).
Wie vereint ihr Unschooling / Freilernen mit eurer Karriere?
Je nachdem, wie man Karriere definiert, kann sich Unschooling in der eigenen Familie hinderlich auswirken auf die Karriere. Wenn nun also alle Bezugspersonen einen Arbeitsalltag außerhalb der Familie anstreben, so dass niemand zur Betreuung und für Hilfestellung vorhanden ist, so dürfte das Ziel mit den Kindern gemeinsam zu leben verfehlt sein.
Wir halten es für wichtig, das mindestens eine Bezugsperson den Kindern ständig zur Verfügung steht (entsprechend dem Alter und Fähigkeiten des Kindes angepasst natürlich). Ist das Ziel Unschooling für eine Familie groß genug, so wird sie Wege finden das Unschooling und die Karriere zu vereinen.
Gebt ihr Impulse „sich mal an den Tisch zu setzen“? Wie oft findet „begleitetes Lernen“ beim Freilernen / Unschooling statt? Lernt ihr auch mit Lehrplan?
Wir machen Angebote, die aber tatsächlich nur Angebote sind und von unseren Kindern auch als solche verstanden werden. Ein Angebot darf man ablehnen und der Anbietende weiß das und hat keinen Grund deshalb sein Verhalten zu ändern oder eingeschnappt zu sein. Diese „Impulse“ sind immer freiwillig und bedingungslos.
Wir wissen, dass lernen hauptsächlich nicht am Tisch stattfindet, sondern immer in unserem Alltag, unserem ganz normalen Leben. Lehrpläne haben wir deshalb keine. Natürlich bieten wir Begleitung oder Hilfestellung an, sollten wir den Eindruck haben, dass ein Kind dies grad annehmen mag oder eben aktiv selbst danach fragt.
Führen eure Kinder Hefte zu bestimmten Themen oder schreiben sich Gelerntes auf?
Aktuell eher selten. Manchmal gibt es den Wunsch Listen oder Sammlungen zu erstellen. Das wird dann gemeinsam oder auch alleine gemacht, aber haben diese meist im Nachhinein wenig Bedeutung für die Kids. Die Erstellung dieser ist für sie der eigentlich Sinn. Natürlich kann sich dies jederzeit und mit fortgeschrittenem Alter ändern.
Wie weit sind eure Kids im Vergleich zu Gleichaltrigen?
Eine gerne gestellte Frage, auch verdeckt als „In welcher Klasse wären eure Kinder jetzt?“ oder „Wie alt sind eure Kinder?“, nachdem gefragt wurde, ob sie schon lesen, schreiben und rechnen können, auftaucht.
Da wir wissen, dass unsere Kinder ganz anders lernen und dies absolut nicht vergleichbar ist mit dem wie Kinder im Schulsystem lernen, können wir darüber keine eindeutige Aussage machen. Würden wir gezwungenermaßen die Kenntnisse unserer Kids in Fächer einteilen, wären sie Gleichaltrigen in manchen Fächern weit voraus und in anderen hätten sie aus schulischer Sicht Nachholbedarf. Da das aber irrelevant ist für uns, stellen wir diesen Vergleich nicht an.
Was hat euch zum Freilernen bzw. Unschooling inspiriert?
Was uns zum Unschooling / Freilernen inspiriert hat, lest ihr in unserem Artikel Freilernen (Unschooling) – Weg in die Freiheit
Wo findet ihr (kostenloses) Lernmaterial?
Überall. Das Internet und das Leben draußen vor der Tür ist voll davon. Als Angebote haben wir ein paar „Lernapps“ wie „Anton“ oder „Fiete“ auf unseren Smartphones, die mal mehr und mal gar nicht genutzt werden.
Aber auch wir haben weitere Materialien immer als Angebote parat.
Welche, das seht ihr hier: Freilernen mit Material? Womit wir lernen.
Wie könnt ihr freilernen und dabei der Schulpflicht entgehen?
Wir sind auf Reisen gegangen mit unseren Kindern. Haben festen Wohnsitz gegen Abenteuer eingetauscht und haben Deutschland verlassen. Wie ihr damit aus der Schulpflicht kommt, könnt ihr hier nachlesen: Raus aus der Schulpflicht – jetzt reisen und auswandern ohne Schule.
Es gibt allerdings auch Familien, die zum Freilernen in Deutschland geblieben sind. Sollte das euer Plan sein, so schaut mal beim BVNL vorbei und holt euch die Hilfestellung, die ihr benötigt.
Wir wir die ganze Bürokratie wie Schulpflicht, Kindergeld und Finanzamt angegangen sind, bevor wir endlich auf Reisen gehen konnten, erzählen wir in unseren eBooks.
Zwischen Freiheit und Finanzamt

Freie Schulen bzw. Waldorfschulen als Alternative zum Freilernen?
Auch Freie Schulen unterstehen den deutschen Schulgesetzen der einzelnen Bundesländer. Sie sind nur so frei, wie es das jeweilige Schulgesetz zulässt. Auch auf diesen Schulen müssen letztendlich die kleinen Menschen bewertet und analysiert werden, in Kurven gepresst und dürfen nicht selbst entscheiden, ob jetzt der Zeitpunkt ist, um auszuruhen, Fußball zu spielen oder Lagerfeuer zu machen (um mal die womöglich liebsten Fächer, die ich schon auf solchen Stundenplänen lesen durfte, zu benennen).
In der Theorie oftmals allerdings schon, wenn man sich man wirklich toll klingende Konzepte durchliest. Kommt man aber in Kontakt mit der Praxis aus erster Hand, hören wir vermehrt auch anderes. Auch hier findet ein Großteil des Alltags aus Zwang außerhalb der Kernfamilie statt und auch hier gibt es oft nicht genug Personal, um ungesunde Gruppendynamiken zu erkennen und zu vermeiden. Für auf diesem Gebiet kompromissbereite Familien sicherlich im Einzelfall eine tolle Lösung.
Wie gehen wir mit Kritik innerhalb der Familie um?
Wir haben uns über die Jahre einen Ruf in unserer Familie erarbeitet, der dafür sorgt, dass unsere Familien nicht mehr allzu überrascht sind, wenn wir wieder mal alles anders machen müssen als sie es gewohnt sind. Anfangs haben wir uns noch zu Diskussionen und Erklärungen hinreißen lassen. Später, als wir merkten, dass das zu nichts führt, haben wir diese Energie gespart und unserer Familie Literatur und Dokumentationen empfohlen mit dem Angebot, danach gerne darüber zu sprechen.
Ein Teil der Familie hat dieses Angebot angenommen und steht seither vollkommen hinter unserer Entscheidung. Ein anderer Teil hat sich nicht weiter damit befasst und kommt auch nach vielen Jahren noch mit den immer selben Gedanken und Bedenken auf uns zu. Allerdings entscheiden wir, wie wir damit umgehen und stören uns nicht daran. Niemand muss alles gut finden, was wir machen.
Gibt’s Literatur für skeptische Großeltern oder Partner? Buchtipps?
Ja! Es gibt viele wunderbare Dokumentationen und Bücher übers Freilernen, aber eine ganz besondere möchte ich euch hier vorstellen. Es handelt sich um den Film „Alphabet“ und lässt u.a. auch Hirnforscher wie Gerald Hüther zu Wort kommen, um das ganze Thema „Lernen“ von der wissenschaftlichen Seite beleuchten.

An Literaturempfehlungen von der Familie Stern über Klassiker von John Holt und Taylor Gatto und vielen weiteren:
John Holt
Gemischte Autoren
Werdet ihr auch zum Unschooling bzw. Freilernen befragt oder habt ihr sogar selber Fragen? Stellt sie uns hier in den Kommentaren oder per Kontaktformular.
Der Artikel spricht mir aus dem Herzen – tiefgründig gedacht, kenntnisreich und mit schlagfertigen Argumenten.
Zwei meiner Kinder leiden auch unter dem System Schule, obwohl ich beiden immer Mut gemacht habe und versucht habe, sie zu motivieren. Doch irgendwie bin ich selbst ein Freigeist und lerne heute noch mit Begeisterung vom Leben. Das muss auf meine Kinder abgefarbt haben.
Nun plane ich eine Weltreise Open end. Für meine Kleine (jetzt 10) wird es ein Segen sein. Meine Mittlere (15) ist süß gesundheitlichen Gründen momentan von der Schulpflicht befreit. Mein Großer legt sich gerade ins Zeug, einen guten Realschulabschluss zu erreichen. Er will unbedingt Abitur machen und studieren.
Ich hoffe, dass es trotzdem meinen Kindern etwas gibt, wenn es in ca. 2 Jahren losgeht. Der Große wird wahrscheinlich teilweise mitkommen… Wir werden sehen, wie das Leben dann so spielt.
Auf jeden Fall werde ich dem Block hier mit den hilfreichen Informationen folgen. 👍🏼
Danke dir! Wir drücken euch die Daumen, dass sich alles so entwickelt, wie ihr es euch wünscht! 🙂
Danke! Danke! Danke!